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Der Blinde

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Der Blinde


Beim Eintreten in den Saal schwappt ihr eine Welle leiser Gespräche und gedämpfter Jazzmusik entgegen, die Luft riecht nach vielen Menschen, schwer und warm umhüllt sie die zierliche Frauengestalt.
Die Jacken werden ihnen sofort von einem freundlich distanzierten Portier abgenommen und gleich darauf wird ihnen zum Tausch ein Glas Champagner in die Hand gedrückt. Sie fühlt sich unbehaglich.
Alle paar Meter stehen kleine Bistrotische und laden dazu ein, sich einen weiteren Aperitiv zu genehmigen un dabei mit der guten Gesellschaft über Politik und Adel zu parlieren.
Der Eifer ihres Mannes, es all den anderen Anzugträgern gleich zu tun, ekelt sie an. Der grosse Kronleuchter aus Svarovski-Steinen ekelt sie an. Die vielen, ihren Ehemännern hinterher dackelnden Luxusweibchen ekeln sie an.
Aber sie schweigt und lächelt und schüttelt gehorsam Hände, wie man es von ihr erwartet.

Stolz und aufrecht geht er von Tisch zu Tisch, pflegt seine Bekanntschaften. Noch muss er das tun, aber in ein paar Jahren schon werden sie alle zu ihm kommen, er ist ein Ausnahmetalent, ein Karrierist, er wird es in der Wirtschaft ganz nach oben bringen, das weiss er.
Die wirklich Wichtigen hat er schon auf seiner Seite, er hat gute Laune, kommentiert da und dort wohlwollend neue Anzüge und präsentiert stolz seine Frau, die zweifellos eine der Jüngsten im Raum ist und bestimmt auch ein der Schönsten. Macht ihr jemand ein Kompliment zu Kleid oder Frisur, stimmt er fröhlich zu. Ja, das ist ein erfolgreicher Abend und dazu trägt sie bestimmt auch bei.
Er bemerkt wohl die Blicke der älteren Herren, die über ihren Körper wndn und er lächelt und freut sich über gewonnenes Wohlwollen oder eine freundliche Einladung zum Essen.
Als sie die Veranstaltung endlich verlassen, zieht sie den Mantel nicht wieder an, obwohl ihr kalt ist. Der eisige Wind gibt ihr das Gefühl, wieder freu atmen zu können und sie wäre gerne nach Hause gelaufen.
Erst, als sie schon im Auto sitzen, bricht sie das Schweigen.
"Bist du glücklich?"
Er reagiert nicht. Irgendwann sagt er: "Du hast heute sehr schön ausgesehen. So solltest du dich jetzt vielleicht öfter zurecht machen."
Sie sieht aus dem Fenster. Früher wäre sie einfach gelaufen, egal wie weit. Sie tat damals immer, was sie wollte.
"Du hast meine Frage nicht beantwortet.", sagt sie. "Ob du glücklich bist."
"Was für eine dumme Frage. Natürlich bin ich glücklich, ich habe doch alles.", antwortet er.

"Einen Kaffee, bitte.", wünscht sie und begutachtet ihre zerschlissene Lederjacke. Zuhinderst im Schrank war sie versteckt, weil er sie noch nie mochte. "So etwas musst du jett nicht mehr anziehen, geh, kauf dir etwas Neues.", sagt er immer, wenn sie ihre alten Sachen trägt. Sie muss aufpassen, dass er sie nicht einfach weg wirft.
Ihre Hände spielen nervös mit der Karte. Sie sollte jetzt zu Hause sein und tun, was Frauen von reichen, jungen Männern eben so tun. Aber sie musste raus.
Sie hat noch keinen Plan, wie sie erklären soll, dass das Abendessen nicht auf dem Tisch stehen wird, wenn er nach Hause kommt. Sie hat überhaupt noch keinen Plan um weiter zu machen.
Die Kellnerin stellt den Kaffee vor sie hin und lächelt freundlich. "Bitte schön.", sagt sie und eilt schon zu nächsten Tisch.
Die Tasse wärmt ihre Finger und sie starrt lange nur auf die stille, schwarze Flüssigkeit, bevor sie trinkt.
Ein lautes Klacken lässt sie aufsehen.
Vor ihrem Tisch steht ein Mann, älter als sie, vierzig vielleicht und doch niemals so alt, wie er aussieht. Seine Augen sind in die Ferne gerichtet und trüb.
Sein Stock ist gegen den zweiten Stuhl gestossen. Er ist blind.
"Kann ich Ihnen helfen?", fragt sie freundlich und wundert sich über ihre Stimme, die so leise klingt, als hätte sie sie lange nicht benutzt.
"Sehr gerne.", antwortet der Mann und seine Stimme klingt dunkel, als ob sie von ganz tief aus ihm heraus käme. "Ich suche einen Platz.", erklärt er und sie blickt sich in dem vollen Café um.
"Ich sehe leider keinen freien Tisch", sagt sie und überrascht sich dann selber; "Aber wenn Sie möchten, setzen Sie sich doch zu mir."
Er lächelt. "Vielen Dank.", sagt er, während er sich sehr langsam setzt.
"Sie haben eine schöne Stimme.", fügt er dann hinzu, als sei es das Natürlichste auf der Welt.
"Vielen Dank.", murmelt sie. Er lächelt wieder. "Das hat Ihnen noch nie jemand gesagt, nicht wahr?"
Sie schüttelt den Kopf, doch dann fällt ihr ein, dass er das nicht sehen kann. "Ich glaube, mein Mann ist froh, wenn ich still bin.", sagt sie frei heraus und wundert sich dabei über ihre Offenheit.
"Das Sehen ist ein Privileg", sagt er. "Wenn man sich dessen nicht bewusst ist, verpasst man leider oft das Wichtigste."

Als sie die Haustür aufschliesst, hat sie endlich einen Plan. Sie geht in den Keller und holt einen grossen Rucksack hervor. In Gedanken überlegt sie sich, was sie ihm sagen wird, wenn er zurückkommt.
Sie möchte die Welt sehen. Sie möchte frei sein.
Sie möchte erkennen, was wirklich wichtig ist.
Er wird nicht zu diesem neuen Leben gehören.
Sie ist sich endlich sicher.
08.12.08
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