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Ameise, ich.

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dreaming-puky's avatar
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Ameise, ich.


An machen Tagen fürchte ich mich davor, meine Wohnungstür aufzumachen und die Welt hereinzulassen. Manche Tage, vor allem kalte, nasse Tage wie diesen, würde ich gerne einfach aus dem Kalender streichen.
An Tagen wie diesem hat es mir zu viele Menschen auf der Erdkugel.
Ich stelle mir vor, wie sich diese sieben Milliarden Menschen in den grossen Städten drängen, eingezwängt in Strassenzeilen, so nahe beieinander und doch kaum sehend, wer neben einem steht, geht - lebt.
"Warst du heute alleine in der Stadt?"
"Ja, ich bin alleine gegangen."
An solchen Tagen würe ich gerne in der Wüste leben. Oder in Sibirien. Wo allein sein noch allein sein ist.

Nebel liegt über der Stadt, als ich zögerlich die Tür aufstosse. Es ist kalt und schon zum mindestens dritten Mal an diesem noch jungen Ta wünsche ich mih in mein Bett zurück. Seufzend schliesse ich hinter mir ab, stecke die Hände tief in die Manteltaschen und mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle.
Der Lärm der Strasse dringt nur gedämpft zu mir durch. Ich fühle mich wie in einer Seifenblase. Noch nicht ganz wach und weit weg von allem.
Es fängt an zu regnen und mit einem Mal platzt meine Seifenblase und ich lande unsanft in der Wirklichkeit. Hastig ziehe ich mir die Kapuze über den Kopf. Jemand hupt.
Der Strassenlärm hallt in meinem Kopf wieder und wieder und ich bleibe stehen. Dann verpasse ich eben den Bus. Ich mustere die Menschen um mich herum, Männer in Anzügen mit Aktentaschen, Frauen in Kostümen, vereinzelt Schüler oder Omas auf dem Weg zum Supermarkt. Niemand grüsst.
Sie alle schweigen sich an und ihr Schweigen dröhnt beinahe eben so laut wie die Strasse.
Ich presse ir die Hände auf die Ohren, aber es nützt nichts. Natürlich nicht.
Ich versuche zu summen, um zumindest mich selber zu hören, sicher zu sein, dass ich noch da bin.
Ich bringe keinen Ton heraus.
Angst drückt alles in mir zusammen.
Dann entscheidet irgendetwas in mir auszubrechen, ich laufe, werde immer schneller, renne plötzlich, ohne nachzudenken mitten auf die Strasse.
Ich schreie.
Ich weiss nicht, was ich schreie, aber ich merke, dass ich schreie, als wäre ich nicht ich. Als würde ich mich nur beobachten.
Jemand zieht mich von der Strasse. Plötzlich realisiere ich das Hupkonzert, das Chaos, das ich ausgelöst habe. "Sind Sie eigentlich völlig von Sinnen?!"
Verwirrt starre ich den Mann an, der wütend zu sein scheint. "Entschuldigen Sie.", murmle ich, entziehe mich seinem Griff und laufe weg. Die Menge verschluckt mich.

Ich weiss, dass ich überlebe.
Ich weiss, dass nicht alle Tage wie dieser sind.
Trotzdem fühle ich mich winzig. Ameisen-gross.
Wer bemerkt schon eine Ameise?
Ich beschliesse, nach Hause zu gehen und diesen Tag aus dem Kalender zu streichen.
Ameise, ich.
Nicht gross genug, um gesehen zu werden. Aber auch nicht gross genug, um zertreten zu werden.
just how much distance means
we're all alone?
and can we be happy,
happy alone?


:heart:
© 2009 - 2024 dreaming-puky
Comments4
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BeauCyphre's avatar
Es ist lange her, dass ich diese Geschichte zum ersten Mal gelesen habe, doch heute habe ich sie endlich richtig gelesen. Beim ersten Mal hat sie mir zwar schon gefallen, aber vieles ging noch an mir vorbei. Heute aber passt sie so richtig, und das war mir klar, als ich sie dank dem Zufallsmodus in :iconpreciousredrose: gleich auf der Startpage gefunden habe. Da wusste ich: Ich muss endlich etwas dazu schreiben. Eigentlich weiß ich bis heute nicht, warum du mit Schreiben aufgehört hast (jedenfalls mit dem öffentlich sichtbaren Teil davon), aber ich weiß, dass du mit dieser Geschichte ein sehr wichtiges, vielleicht sogar ein uns allen allgemeines Gefühl eingefangen hast: Das Gefühl der Verlorenheit in unserer Zeit.